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Teilprojekte

Die Forschungsgruppe ist interdisziplinär zusammengesetzt, um die Arbeit an den Phänomenen mit ethnologisch/ethnographischen, historisch/historiographischen, wissenschaftshistorisch/wissenschaftssoziologischen sowie medientheoretischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen methodisch breit abzusichern. Aufgrund ihres Gegenstandsbereichs hat sie einen medizinhistorischen Schwerpunkt und will die Bezugsdisziplinen Psychiatrie, Psychologie und Soziale Arbeit in die Forschung einbeziehen.

Das Teilprojekt widmet sich den Präventionsbemühungen im Feld psychischer Gesundheit in beiden deutschen Staaten von ihrer Gründung bis zehn Jahre nach der Wiedervereinigung.
Im Zentrum der Analyse steht dabei das im Zuge der Prävention psychischer Störung entstehende Dispositiv des „besorgten Selbst“, das hinsichtlich der drei zentralen Komponenten der staatlichen Vorsorge, (sozial-)pädagogischen Fürsorge und psychologischen Selbstsorge untersucht werden soll. Das Projekt bringt damit zwei argumentative Bausteine in die FOR ein: 1. Die Veränderungen präventiver Praktiken und Wissenstechniken durch Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen. 2. Die Verschränkung eines besorgten Selbst durch mehr Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Entmächtigung durch Vorsorge im Zug staatlicher Präventionsdiskurse.

Projektleiterin: Prof. Dr. Viola Balz,  Berlin

Das Teilprojekt nutzt das Stichwort „Antipsychiatrie“ als heuristisches Mittel, um unterschiedliche psychiatriekritische Initiativen und Bewegungen in den Blick zu nehmen, die gegenwärtig in Kritik an etablierten epistemologischen Ordnungen, Behandlungsroutinen und/oder Klassifikationspraktiken der Psychiatrie andere Formen des Umgangs mit Verrücktheiten vertreten und/oder praktizieren. Untersucht werden sollen Formen psychiatriekritischer Interventionen in ihren gegenwärtigen Ausdrucksformen. Damit steht die komplexe Figuration inner- wie außerpsychiatrischer Kritik mit ihren mehrdeutigen, widersprüchlichen und teilweise auch paradoxen Praktiken und Arrangements sowie mit ihren ermöglichenden wie begrenzenden Effekten im Zentrum. Ziel ist es, aktuelle Praktiken und Diskurse der vielfältigen Formen der Psychiatriekritik jenseits einer dichotomen Gegenüberstellung von Kritik und Institution zu erfassen und ins Verhältnis zu physischen und imaginativen Stadträumen zu setzen.
Methodisch setzt das Teilprojekt auf ethnographisches Arbeiten, damit auf ein Bün-del an Methoden der qualitativen Sozialforschung, sowie auf genealogische Verfahren, um Kontinuitäten, Brüche und Verschiebungen im Bereich psychiatriekritischer Interventionen aufzuzeigen. Im Anschluss an ein breit angelegtes Mapping sollen durch unterschiedliche Verfahren der Aufzeichnung, Befragung und Dokumentenanalyse in Form von drei Fallstudien – Durchblick e. V. Leipzig, Weglaufhaus, Mad Pride Netzwerk Berlin – Aufschlüsse dar-über gewonnen werden, wie sich Psychiatriekritik als Wissens- und Handlungsfeld artikuliert und wie psychiatriekritische Bewegungen und Initiativen mit physischen wie imaginären Räumen des Urbanen verflochten sind.
Das TP leistet mit diesem Arbeitsprogramm einen Beitrag zum besseren Verständnis der Artikulationen an der Schnittstelle von Ohnmacht/Ermächtigung sowie damit verbundener Prozesse der De- und Re-Institutionalisierung. Angesichts der aufgeweichten Grenze zwischen Institution und Widerstand/Kritik soll das Gefüge an Interaktionen und Effekten der „Antipsychiatrie“ (im Sinne eines weitgefassten Verständnisses von Psychiatriekritik) als normal#verrückte Konstellation greifbar gemacht werden.

Projekteiterin: Prof. Dr. Beate Binder
Bearbeiterin: Dr. Francis Seeck

In den Blick genommen werden jene Bewegungen, die in den Jahren zwischen gesellschaft-lichem Aufbruch (1967/68) und der zu Ende gehenden Nachkriegszeit (1989/91) in der Bun-desrepublik für andere Rationalitäten eintraten – aber nicht nur als sozial- und gesellschaftshistorische Phänomene, sondern als gelebte Form neuer Medientechniken. Das Teilprojekt bringt damit zwei argumentative Bausteine in die FOR ein: (1) Materiale Geschichte von Antipsychiatrie, Frauenbewegung & Esoterik/New Age. (2) Pluralisierung von Wahrheit und Wirklichkeit durch medientechnische Vervielfältigungstechniken.

Projektleiter: Prof Dr. Volker Hess
Bearbeiterin: Dr. med. Susanne Doetz

Das Teilprojekt untersucht die Erosion der Leitdifferenz von normal und verrückt aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive. Zum einen wird der Umgang mit der Figur normal#verrückt in der Frauengesundheitsbewegung historisch untersucht, zum anderen nach dem Wandel des professionellen Selbstverständnisses der feministischen Akteur*innen in diesem Arbeitsfeld in den 1990er Jahren gefragt. Mitte der 1970er Jahre wurden in der Bundesrepublik Deutschland erste Frauengesundheitszentren sowie Feministische Therapiezentren gegründet. Das Projekt wird eine mikrohistorische Studie in Göttingen durchführen, da sich in dieser überschaubaren Universitätsstadt in der Provinz nicht nur ein dichtes Netz von Frauenprojekten entwickelte, die sich speziell an Frauen in psychischen Krisen richteten, sondern die Göttinger*innen auch überregional im Bereich der Feministischen Therapie als Akteur*innen in Erscheinung traten. Die Akteur*innen der Frauengesundheitsbewegung vertraten eine dezidiert gesellschafts- und psychiatriekritische Position, da sie Pathologisierung und Psychiatrisierung von Frauen als Ausdruck patriarchaler gesellschaftlicher Strukturen deuteten. In dem Forschungsprojekt soll daher erstens danach gefragt werden, welche alternativen Konzepte zur „Verrücktheit“ und zur Therapie Akteur*innen der Frauengesundheitsbewegung entwickelten. Dabei ist von Interesse, welche Überschneidungen und Differenzen zur antipsychiatrischen Bewegung bestanden, und inwieweit Diskurse und Praktiken der Frauengesundheitsbewegung alternative Konzepte zur Differenz von normal und verrückt hervorbrachten. Anhand von Fallstudien einzelner Initiativen und Akteur*innen soll das Spannungsverhältnis von angestrebter Entpathologisierung bei gleichzeitiger Therapeuti-sierung von Frauen analysiert werden. Zweitens soll nach dem konflikthaften Prozess der Professionalisierung der Frauenprojekte in den 1990er Jahren und dem Selbstverständnis der Akteur*innen in diesen Projekten gefragt werden, die sich im Laufe der 1990er Jahre von Frauenselbsthilfe- zu Beratungseinrichtungen mit professionell ausgebildeten Berater*innen und Therapeut*innen wandelten. Drittens soll untersucht werden, welche Form von alternativem Wissen resp. Gegenwissen im Kontext Feministischer Therapie etabliert wurde, wie in dieser Wissensproduktion Geschlecht im Kontext von normal#verrückt konzeptionalisiert und welche Ein- und Ausschlüsse produziert wurden.
Das TP bringt zwei argumentative Bausteine in die FOR ein (1) feministische Ge-sellschafts- und Psychiatriekritik, (2) Konzepte von Selbstermächtigung, Subjektivierung im Kontext von feministischer Therapie und Selbsthilfe.

Projektleiterin: Prof. Dr. Karen Nolte
Bearbeiterinnen: Dr. Ulrike Klöppel, Vera Luckgei, MSc.

Die „Deinstitutionalisierung“ ist einer der zentralen Narrative der Psychiatriegeschichte. Die Verschränkung von Kritik an den psychiatrischen Praktiken und immer stärker werdenden finanziellen Zwängen in der Sozialpolitik habe die Zahl der psychiatrischen Betten spätestens ab den 1960er Jahren massiv reduziert, so eine verkürzte Darstellung dieser Erzählung. Dieser Prozess sei dabei eingebettet in breitere gesellschaftlichen Entwicklun-gen, in denen klassischen Institution sowohl in ihrer ideologischen Legitimation wie in ihrer materiellen Bedingtheit grundsätzlich in Frage gestellt worden seien. Bis jetzt wurde das Thema hauptsächlich für den nordamerikanischen Raum analysiert oder in einer Ideen- und Politikgeschichte als „top-down“ Phänomen beschrieben. Dabei kam es zum Teil zu sehr heftigen Debatten über das Ausmaß dieser Deinstitutionalisierung (de/re:institutionalisation), ihrer Chronologie und ihren Gründen (z.B. war die Einführung von Neuroleptika conditio sine qua non für diesen Prozess). Desweiteren war der Begriff der Deinstitutionalisierung von seiner Popularisierung Anfang der 1960er Jahre an sowohl ein politischer Kampfbegriff der von Gegnern und Befürworten unterschiedlich aufgeladen wurde, als auch eine wissenschaftliche Beschreibung durch Psychiater*innen, Psycholog*innen, Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen.
Ziel des Teilprojektes Lebensläufe von Patienten, Heterogenität der Institutionen ist es, die Frage der Deinstitutionalisierung alltagsgeschichtlich zu beleuchten. Das Projekt möchte anhand einer Kohorte von Lebensläufen von Menschen, die sich Anfang der 1960er Jahre in der Psychiatrie befanden, die Frage der Deinstitutionalisierung „von unten“ neu beleuchten. Dabei soll sowohl die Nach- wie Vorgeschichte dieser „Patienten“ betrachtet wer-den. Arbeitshypothese wird dabei sein, dass es nicht zu einer Deinstitutionalisierung sondern zu einer Auffächerung von institutionellen Antworten kam. Die alltagsgeschichtliche Herange-hensweise soll nicht nur die Heterogenität der Lebensläufe aufzeichnen und die Vielzahl der Auffangsstellen, die sich ab den 1960er herausbildeten, herausarbeiten, sondern auch die Erfahrungen von bisher noch kaum gehörten Akteur*innen dieser Deinstitutionalisierung (Pa-tienten, Krankenschwester, Psychologen …) hörbar machen.

Projektleiter: Ass. Prof. Dr. Benoît Majerus
Bearbeiter:  Samuel Dal Zilio

Zu Beginn der 1970er-Jahre wurde Heroin in der Bundesrepublik und in West-Berlin zur dominierenden Substanz unter den verbotenen Drogen. Städtische Drogenszenen und „Junkies“ zogen öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und offenbarten eine Überforderung nicht nur der ausführenden Gewalt und der Gerichte, sondern auch der sich in einem tiefgreifenden Reformwandel befindenden Psychiatrie, ihrer Konzepte und Institutionen.
Beabsichtigt ist die Identifikation und Analyse jener Phänomene, die die gesellschaftliche Sicht auf das Heroinproblem und den Umgang mit Heroinkonsumenten in den 1970er und 1980er Jahren bestimmten. Dabei wird der Einschätzung Rechnung getragen, dass substanzbezogene Sucht nicht allein als pathophysiologische Tatsache aufzufassen ist, sondern dass darüber hinaus Definitionsprozesse und interessegeleitete Politik rechtliche, soziale und auch medizinische Spannungsfelder erzeugen und bestimmen.
Als maßgebliche Einflussfaktoren sollen im vorliegenden Zusammenhang die mit der „Psychiatrie-Enquete“ sowie die mit dem Aufkommen von HIV/AIDS verbundenen innerpsychiatrischen wie auch gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen einbezogen werden, da beide Phänomene, so die These, im Drogen-Kontext zu der im Rahmenantrag begründeten „erodierenden Differenz von verrückt und normal“ wesentlich beitrugen. Heroinsucht ist eine Erscheinung, die nicht nur individuelle Krankheits- und psychische Ausnahmezustände begründete. Es handelt sich vielmehr auch um eine gesellschaftliche Problemlage, die im Wortsinne „außerordentliche“ Maßnahmen zu rechtfertigen schien. Reaktionsformen zwischen den Polen von Pönalisierung und Akzeptanz des Heroinkonsums führten zum Verlust der psychiatrischen Monopolstellung bei der Deutung und Behandlung der Drogensucht sowie zu einer Diversifizierung (aber auch einer neuen Unübersichtlichkeit) in der Drogenpolitik und im Umgang mit den Konsument*innen, die bis in die Gegenwart wirkt.

Projektleiter: Prof. Dr. Thomas Beddies
Bearbeiter:  Dr. Oliver Falk

Die FOR normal#verrückt untersucht die Erosion einer Semantik des Wahnsinns, die seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Normalisierung, aber auch einer verstärkten Psychiatrisierung von psychischen Störungen einherging. Diese Dynamik erfasste auch die Literatur, die ein ausgezeichneter Ort der Auseinandersetzung mit psychischer Alterität und Störung war und ist. Das geplante TP untersucht Austauschbeziehungen, geteilte Problemstellungen, Missverständnisse und Verwerfungen im Verhältnis von Psychiatrie und Literatur aus epistemologischer, literaturwissenschaftlicher und psychiatriehistorischer Perspektive: Ausgehend von zeitgenössischer Kritik an psychopathologischen Konzepten und Klassifikationssystemen und der nachfolgenden Durchsetzung des Konzepts der Störung im psychiatrischen Aufschreibesystem untersucht das Projekt, wie dieser epistemische Wandel sowohl mit einer Selbstreflexion in der Psychiatrie als auch mit neuen Darstellungsoptionen von psychischer Alterität und Störung in der Literatur kommuniziert. Seit den siebziger Jahren ist die Literatur nicht mehr nur der bevorzugte Ort eines Gegendiskurses zur Psychiatrie, sondern entwickelt neue Darstellungsweisen für die Alterität von Menschen mit Psychiatrieerfahrung sowie neue Spielarten der Kritik, die nicht in der Antipsychiatrie aufgehen. In diese Zeit eines epistemischen Wandels der Psychiatrie, wie er sich an der Einführung internationaler, standardisierter diagnostischer Manuale ablesen lässt, fielen auch eine Rezeption ethnopsychiatrischer Konzepte psychischer Störung und erste Auseinanderset-zungen mit der internationalen Ethnographie psychischer Alterität. Das TP untersucht gemeinsam und vergleichend die Auseinandersetzung mit Psychiatrie in der Literatur und die Rezeption der Ethnopsychiatrie als Orte, an denen Erfahrungen mit psychischer Alterität und Störung artikuliert und reflektiert werden und an denen in dieser Phase eine Pluralisierung der Artikulationen manifest wird. Mit dieser doppelten Perspektive auf Literatur und Psychiatrie untersucht das TP eine Unruhezone, deren kennzeichnendes Merkmal darin besteht, dass Krankheitsentitäten brüchig und zweifelhaft geworden sind. Das TP verbindet kultur- und literaturwissenschaftliche Analysen eines gemeinsamen Korpus von Texten und Quellen mit einer historischen Epistemologie der Konturierung und Stabilisierung von Wissensbeständen nach der Kappung ihrer Verbindung mit Krankheitseinheiten.

Projektleitende: Prof. Dr. Cornelius Borck / Prof. Dr. Armin Schäfer
Bearbeiterinnen:  Svenja Pauline Adamek,  Lisa Schmidt-​Herzog

Die Öffnung der psychiatrischen Anstalten im Zuge der Psychiatrie-Enquete gilt als handfestes Zeichen der Normalisierung des Wahnsinns im ausgehenden 20. Jahrhundert. Seit den 1970er Jahren leeren sich in der Tat die Anstalten. Der Maßregelvollzug hingegen wächst. Diese Gegenläufigkeit wird zunehmend als Re- bzw. Transinstitutionalisierung und/oder als Chiffre der modernen Risikogesellschaft diskutiert. Ausgehend von dieser Debatte untersucht das beantragte Projekt die Entwicklung des westdeutschen Maßregelvollzugs von einer Institution der „Sicherung und Besserung“ hin zu einer Institution der „Besserung und Sicherung“ und die damit verbundene Figur der*des gefährlichen Kranken in deren Verschränkungen mit der Psychiatriereform. Im Sinne einer „Anthropologie der Gegenwart“ geht es dabei darum, Diskurse, Praktiken und Strukturen der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinwirken, als Geflecht komplexer Interaktionen, d. h. als Dispositiv, zu rekonstruieren und die ihnen innewohnenden Ambivalenzen offen zu legen.
Das Teilprojekt verfolgt erstens die Figur des*der „gefährlich(en) Kranken“ in ihrer fachdiskursiven Entwicklung. Zweitens wird der gefährliche Wahnsinn in seiner gesellschafts-politischen Berücksichtigung und Tragweite untersucht. Drittens soll der Alltag rekonstruiert werden, der vor dem Hintergrund der Etablierung und (Re)-Formulierung eines reformierten Maßregelvollzugs die Wirklichkeit der De/Institutionalisierung bestimmte. Das Projekt fokus-siert dabei auf die Wechselbeziehungen zwischen den diskursiv erzeugten und vermittelten Wissensordnungen des „gefährlichen Wahnsinns“ und ihren konkreten handlungspraktischen Wirksamkeiten im Maßregelvollzug in Diagnostik, Behandlung und Prognostik: Anhand der überlieferten Patientenakten und Dokumentationen des Stationsalltages aus der forensisch-psychiatrischen Klinik in Moringen, dem heutigen Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen/Moringen, wird exemplarisch untersucht, wie der wissenschaftliche und gesellschaftspo-litische Gefährlichkeitsdiskurs den Alltag und die Routinen in der Forensik geprägt haben.

Projektleitende: Dr. Chantal Marazia / Prof. Dr. Heiner Fangerau
Bearbeiterin:  Dr. Uta Hinz

1945 prägte der Künstler und Sammler Jean Dubuffet den Begriff Art brut für originelle Werke von Laien, die außerhalb von Traditionen und aktuellen Kunstströmungen entstanden waren, die er jedoch für die eigentliche Kunst hielt, darunter prominent Werke von Psychiatrieinsassen. Damit bezog er dezidiert Stellung in der Debatte über die Zuordnung dieser Werke zwischen Pathologisierung und Aufwertung zur Kunst. Die Debatte hatte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg für „Bildnerei der Geisteskranken“ begonnen, bis sie  - im deutschen Sprachraum – mit dem Nationalsozialismus fast vollständig verdrängt worden war.
In den folgenden Jahrzehnten standen diese Werke, die wir  im Rahmen des Verbundprojekts normal#verrückte Kunst nennen möchten, im Zentrum immer wieder neuer Aushandlungsprozesse, in die sich neben Psychiater*innen nun auch verstärkt Künstler*innen, Ausstellungs-macher*innen, Galerist*innen, Sammler*innen, Journalist*innen, Kunst-therapeut*innen und nicht zuletzt die Künstler*innen selbst einmischten. Neben sich ständig erweiternden Akteurskonstellationen wird in den Debatten eine Erosion der Differenz von „normal“ und „verrückt“ sichtbar, wobei sich die Kategorien dennoch bis heute nicht vollständig aufgelöst haben, sondern im Sinne einer Gegenläufigkeit aufeinander bezogen bleiben. Hierfür sorgen bereits die ökonomischen Logiken des Kunstmarktes, in dem die Emanzipation der Art brut, später „Outsider Art“, aus psychiatrischem Kontext als Kunst nicht ohne gleichzeitige (Selbst-) Pathologisierung auskommt. Der Prozess ist nicht abgeschlossen, gleichwohl kann um 1990 nach der Einrichtung eigener Museen, Galerien, und Zeitschriften von dem Abschluss einer Phase der Institutionalisierung von Outsider Art ausgegangen wer-den, so dass sich dieser Zeitpunkt als Ende des Untersuchungszeitraums eignet.
Ziel dieses Teilprojekts ist es, die in der Forschergruppe untersuchte erodierende Differenz „normal#verrückt“ an der Intersektion zwischen bildender Kunst/Kunstmarkt/Kunst-betrieb und Psychiatrie/Psychiatrieerfahrung/psychische Ausnahmeerfahrung für die Zeitgeschichte des Psychischen fruchtbar zu machen. Dabei geht das Teilprojekt von den normal#verrückten bildkünstlerischen Werken selbst, ihren Eigenheiten und ihrer Ästhetik aus, um deren bildwissen-schaftlich zu ergründende Besonderheiten als Anknüpfungspunkte für die Rekonstruktion der Debatte aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zu identifizieren. Aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung von Kunst und der Öffentlichkeit des Diskurses, der von den normal#verrückten Werken und ihrer Strahlkraft ausgeht, trägt eine Rekonstruktion des Erosionsprozesses gerade in diesem Bereich, eine Reflexion der in ihm wirksamen zentrifugalen und zentripetalen Tendenzen, wesentlich zum Gesamtanliegen der Forschergruppe bei.

Projektleitende: Prof. Dr. Maike Rotzoll / PD. Dr. Thomas Röske
Bearbeitende: Dr. Christof Beyer,  M.A. Caterina Flor Gümpel

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